#ALLEWIEDERDICHTMACHEN
Updated: May 19, 2021
Die Corona-Pandemie dauert nun über ein Jahr, und endlich sind alle so richtig empört. Der Grund: #allesdichtmachen, eine ironisch-bissige Kritik prominenter Schauspieler an den aktuellen Corona-Maßnahmen der Bundesregierung. Die eigentliche Ironie der Stunde ist, dass die sich breitmachende Empörung zwei diametral entgegengesetzte Ausgangspunkte nimmt. Im einen Lager ist man empört, weil man in der Aktion nichts als zynische, antisoziale, verantwortungslose Ketzerei wohlsituierter Künstler erkennen will. Im anderen, gefühlt kleineren Lager ist man empört oder zumindest ärgerlich, wie vehement die Reaktion auf #allesdichtmachen ausfällt.
Ich gehöre zur zweiten Gruppe. Nicht, weil ich den Corona-Maßnahmen generell ablehnend gegenüberstünde. Die meisten sind für mich absolute No-Brainer: Maske, Abstand, Hygiene - alles völlig unstrittig. Zum einen sind es Maßnahmen, die ich als wenig einschränkend und gleichzeitig sehr effektiv wahrnehme, zum anderen sind sie essentiell, um solidarisch andere Menschen an Orten zu schützen, die jeder besuchen muss (Supermarkt, ÖPNV usw.). Meine Eindruck ist: Praktisch alle halten sich erstaunlich gut an diese Maßnahmen. Wer es nicht tut, soll gerne ordentlich blechen. Bei den Maßnahmen, die tiefe Grundrechtseinschnitte bedeuten, bin ich seit Beginn der Pandemie hin- und hergerissen. Darauf bin ich sehr stolz! Ich glaube, ich verstehe den Ernst der Lage in angemessener Weise. Vielleicht sind die aktuellen Maßnahmen selbst in der aktuellen Schärfe richtig… Ich denke ich habe - wie fast alle, die sich auf beiden Seiten lautstark an der Diskussion beteiligen - nicht genug Wissen und Weitblick, um das einigermaßen sicher beurteilen zu können. Zwei Aspekte finde ich allerdings tief bedrückend: Einmal, wie scheinbar bereitwillig die Politik zu Maßnahmen greift, die für mich bisher strikt mit totalitären Systemen assoziiert waren - Ausgangssperren, Kontaktverbote, Schließungen kultureller Einrichtungen. Noch mehr bedrückt mich, dass ich aus der gesellschaftlichen Mitte während der gesamten Zeit kaum kritische Stimmen wahrgenommen habe. Die wenigen, an die ich mich erinnern kann, wirkten auf mich unkoordiniert, vereinzelt, kleinlaut. Das erzeugt in vielen meiner Mitmenschen scheinbar ein gutes Gefühl, mein Gefühl dazu ist ein mulmiges: Müssten wir nicht - selbst die uneingeschränkten Verfechter der Maßnahmen - jeden Tag darüber diskutieren wollen, ob sie in dieser Form weiterhin notwendig und verhältnismäßig sind? Immerhin ist das, was wir da gerade auf unbestimmte Zeit aussetzen - unsere Grundrechte - die absolute Essenz unserer Demokratie, oder? Ich frage mich wirklich, ob ich in dieser Sache komplett schief gewickelt bin.
Vor ein paar Wochen titelte die Süddeutsche: "Mehr Diktatur wagen". Der dazugehörige Artikel stammt von einem Heini, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, seines Zeichen Philosoph, glaube ich. Darin schrieb er sinngemäß: „Wie mit dem Coronavirus umzugehen ist, ist Sache der Wissenschaft, und nur der Wissenschaft.“ Genau erinnere ich mich nicht mehr, und ich habe keine Lust, das nochmal zu recherchieren. Was aus diesen Zeilen deutlich werden sollte, ist dass der Autor offensichtlich zum Schwadronieren geboren ist, nicht zum Denken, und dass er von Wissenschaft keinen blassen Dunst hat. Die Wissenschaft kann lediglich (stets mit einer gewissen Unsicherheit behaftete) Evidenzen liefern, die gesellschaftspolitische Fragen beeinflussen sollten, um ein gutes und verantwortungsvolles Resultat zu erzielen. Da für viele wichtige Aspekte bisher keine klare Evidenz existiert und die gegeneinander abzuwägenden Güter in einer komplexen Angelegenheit wie der Corona-Krise nicht streng kommensurabel sind, kann kein Wissenschaftler der Welt sagen, was in dieser schwierigen Situation der unzweideutig richtige Umgang mit dem Virus ist. Christian Drosten, jemand der offenkundig etwas von Wissenschaft versteht, hat das zu Beginn der Pandemie einmal mit der für die meisten Wissenschaftler typischen Bescheidenheit angemerkt (in etwa so): Die Entscheidung, wie wir in dieser Situation verfahren sollten, ist primär eine politische, keine wissenschaftliche. Worauf ich mit dem Zitat des mir unbekannten Philosophen jedoch eigentlich hinaus wollte: Ich finde, ein zu großer Teil des gesellschaftlichen Mainstream liebäugelt derzeit auf befremdliche Weise mit autoritären Ideen. In meinem linken Berliner Umfeld sind Gedanken wie „Mehr Diktatur wagen“ keine Seltenheit. Auch Aussagen á la „Alles dicht machen“ sind gefallen. Einige Bekannte von mir folgen den Maßnahmen nicht nur peinlich genau, sondern legen in einer Art vorauseilendem Gehorsam noch strengere Regeln an als vorgeschrieben. Manche ergehen sich scheinbar genüsslich in Prophezeiungen, nach denen es nie wieder so werden wird wie früher und wir uns alle daran gewöhnen sollten, unsere Freiheit in der gewohnten Form nicht mehr wiederzuerlangen. Woher kommt all das?
Ich denke, es gibt zwei Haupttreiber: Genuine Angst und Tugendgebaren. Das Tugendgebaren ist seit längerer Zeit das absolute Hobby unserer postmodernen Spezis, aber woher kommt diese ungewöhnlich große Angst, die viele Menschen in meinem Umfeld zum Ausdruck bringen? Ich würde mich der in #allesdichtmachen geäußerten Einschätzung anschließen, dass Politik und Medien bewusst und ziemlich vehement versucht haben, in der Bevölkerung Angst zu schüren, um möglichst großen gesellschaftlichen Zusammenhalt und eine möglichst hohe Akzeptanz der Maßnahmen zu erwirken. Ein Beispiel dafür liefert das zu Beginn der Pandemie geleakte Strategiepapier des Innenministeriums:
"Wir müssen wegkommen von einer Kommunikation [...] einer prozentual unerheblich klingenden Fallsterblichkeitsrate, die vor allem die Älteren betrifft [...] Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen [...] verdeutlicht werden. Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst. Außerdem sollte auch historisch argumentiert werden, nach der mathematischen Formel: 2019 = 1919 + 1929." (https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/corona/szenarienpapier-covid19.pdf?__blob=publicationFile&v=6)
Nichts völlig Abgefahrenes, aber ich denke, die Stoßrichtung wird klar. Dennoch kommen führende Vertreter aus Politik und Medien aus dem Dementieren gar nicht mehr raus. Jens Spahn schüttelt energisch den Kopf und ruft: “Gleichschaltung, absurd, nein also wirklich, absurd.” Natürlich ist das absurd, und es klingt nur noch lächerlicher, weil es diesen ganz speziellen Nazi-Flair hat. Ein gutes Framing, um sich der Kritik zu entziehen, aber worum es bei #allesdichtmachen eigentlich geht - das weiß auch unser lieber Jens - ist die völlig naheliegende Kritik an dem politisch gewollten Konformismus, der für Krisen und besonders für uns Deutsche typisch ist. Will das ernsthaft jemand leugnen? Wenn ich die Kritiker von #allesdichtmachen richtig verstehe, dann halten sie die Aktion doch gerade deshalb für so verwerflich, weil ihrer Meinung nach eine solche Aktion eben genau den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Rückhalt für die Maßnahmen gefährden könnte, der nun ein Jahr lang mühsam aufgebaut wurde. Außerdem ist Panikmache, um die Bevölkerung hinter sich zu bekommen, nicht nur eine gängige politische Strategie, sondern sie war zu Beginn der Pandemie absolut vertretbar, vielleicht sogar alternativlos, was weiß denn ich. Aber sind wir schon so konform, dass wir nicht mehr zugeben können, dass wir konform sind? Wäre es nicht gerade deshalb gerade jetzt wichtig, irgendeine anhaltende, organisierte kritische Stimme zu hören, um nicht in völlig blindem Konformismus zu enden? Und da fällt es einem ein! Es gibt sie ja. Sie wissen schon… Die einen eben. Wie konnte das eigentlich passieren? Rechte Menschen als Wächter der Grundrechte und bürgerlichen Freiheit? Die AFD als Stimme gegen die gesellschaftliche Orthodoxie? Irgendwie verrückt. Sollten nicht eigentlich wir die Werte unserer Demokratie hochhalten? Natürlich war es vorhersehbar, dass #allesdichtmachen sofort die rechte Keule abbekam. Statt diplomatischer Rechtfertigungen hätte Jan Josef Liefers lieber den Wikipedia-Artikel zur Association Fallacy auswendig lernen sollen.
Wenn im öffentlichen Diskurs über politische Einstellung geredet wird, dann nahezu immer anhand einer eindimensionalen Einteilung in links und rechts. Soviel ich weiß ist es gängige politikwissenschaftliche Theorie, dass ein akkurateres Modell eine zweidimensionale Einteilung repräsentiert, mit einer Achse links - rechts und einer Achse liberal - autoritär (sollte ich wider Erwarten der Erste sein, der diesen simplen Gedanken in ein Modell packt, möchte ich, dass es ab sofort als Mackie-Modell an den Elite-Universitäten dieser Welt gelehrt wird). Aus dem Modell resultieren 4 Quadranten: 1. links-liberal (die Checker, wenn man mich fragt), 2. rechts-liberal, 3. links-autoritär und 4. rechts-autoritär (das sind die Bösen, da sind wir uns alle einig).

Dass es einen links-autoritären Quadranten geben soll, will den meisten von uns nicht so richtig in den Kopf. Das geht sogar so weit, dass die links-totalitären Stimmen der Identitätspolitik und Cancel Culture weithin als linksliberal bezeichnet werden. Dabei scheinen auf den zweiten Blick autoritäre Tendenzen unter Linken gar nicht so überraschend - mir fällt spontan kein kommunistischer Staat ein, der nicht nach seiner Gründung alsbald in eine Quasi-Diktatur abglitt (Historiker und Politikwissenschaftler mögen mich eines Besseren belehren). Für die Corona-Situation sollten wir uns vor Augen führen, welche Implikationen verschiedene Ausrichtungen auf den beiden politischen Achsen haben: Rechts-tendierende Menschen legen typischerweise ein größeres Augenmerk auf persönliche Verantwortung, während links-tendierende Menschen eher Solidarität betonen. Auf der zweiten Achse ist eine liberale Ausrichtung typischerweise assoziiert mit einer erhöhten Toleranz für pluralistische oder nonkonforme Ansätze sowie einer erhöhten Bereitschaft, etwas Sicherheit für Freiheit zu opfern. Autoritär ausgerichtete Menschen legen dagegen typischerweise erhöhten Wert auf Konformität, neigen zu einer dichotomen Einteilung der Welt in richtig und falsch und sind eher bereit, Einschränkung von Freiheit zugunsten von Sicherheit und Ordnung in Kauf zu nehmen.
Die Reaktionen auf #allesdichtmachen sind vor allem ein Spiegel dessen, wie liberal oder autoritär die Grundintuitionen der Reagierenden sind, nicht wie links oder rechts. Menschen mit liberaler Grundintuition sehen in der Aktion insgesamt ein überfälliges Infragestellen der orthodoxen Gefolgschaft, mit der große Teile der Bevölkerung bislang selbst weitreichende Maßnahmen akzeptiert haben. Sie sehen in dem Video von Jan Josef Liefers eine wichtige Kritik an der Rolle der Medien, die mit ziemlich apodiktischem Stil seit einem Jahr versuchen, die Bevölkerung auf Rille zu bringen. Nadja Uhl’s Anspielung auf das Märchen “Des Kaisers neue Kleider” verstehen sie als eine intelligente Warnung vor pluralistischer Ignoranz. Den Beitrag von Volker Bruch sehen sie als pointiertes Porträt besorgter Bürger von links. Kathrin Osterode, finden sie, weist ironisch hin auf fragwürdige Auswüchse der Maßnahmen und auf das stille Leid all derer, die nicht medizinisches Personal oder Verstorbene sind, zum Beispiel Kinder. Liberal tendierende Menschen habe eine spontane Sympathie für die Aktion, weil nach ihrer Intuition die geopferte Freiheit nicht mehr im richtigen Verhältnis steht zur gewonnenen Sicherheit. Sie glauben, dass die Maßnahmen mit zunehmender Dauer und Härte an Effektivität verlieren, weil immer weniger Menschen die Kraft oder den Willen besitzen, sie konsequent umzusetzen. Es ist völlig legitim, dass Menschen mit einer anderen Grundintuition diese Ansichten falsch finden, ich teile sie.
In vielen prominenten Gegenreaktionen auf #allesdichtmachen kann man allerdings wenig anderes erkennen als ein weiteres häßliches Beispiel für die illiberalen Tendenzen der postmodernen Linken. Die Brandmarkung der Beteiligten als rechte Handlanger folgt dem Guilt-by-association-Grundsatz totalitärer Systeme. Der Reflex, #allesdichtmachen nicht als abweichende Meinung zu verstehen, die es zu widerlegen gilt, sondern als Blasphemie, die abgekanzelt und bestraft werden muss, ist typisch für autoritär denkende Menschen. Die Strategie, nicht die mutmaßliche Intention der Beteiligten, sondern eine eigens fabrizierte, möglichst maligne Interpretation des Ganzen als Grundlage zu nehmen, um sich dann an der eigenen Empörung aufzugeilen, ist schäbig, aber effektiv. Jan Böhmermann, der Autor des legendären Erdogan-Gedichts, weiß mit bissiger Häme nichts anzufangen und startet den Hashtag #allenichtganzdicht. Er twittert, alles was man ansehen müsse, wenn man Probleme mit Corona-Eindämmungsmaßnahmen habe, sei ein Video über die Charité-Intensivstation mit dem Titel “Sterben”. Es sind solche emotionalen Beweisführungen, solche absurden Vereinfachungen, die es auch den dümmsten Kartoffeln erlauben, sich in einer komplexen Welt vermeintlich zurecht zu finden. Auch einige meiner Kollegen haben sich entsprechend positioniert. Mein ehemaliger Heidelberger Kommilitone Cihan Çelik - wie ich mich erinnere ein super Typ - fühlt sich und seine Patienten von #allesdichtmachen verhöhnt. Das kann ich nicht nachvollziehen. Glaubt ernsthaft irgendjemand, das könnte auch nur im Entferntesten das Motiv der Aktion gewesen sein? Sterbende Menschen und ihre Ärzte zu verhöhnen? Ich denke, was solchen Aussagen zugrunde liegt ist ein falsches dichotomes Denken, das man einem überarbeiteten Intensivmediziner nachsehen kann, aber nicht einer Meute selbsternannter Moralhelden, die sich auf Twitter an ihrem Cyber-Shaming berauschen. Die Shitstorms der linken Cancel Culture sind - das werde ich sagen bis ich umfalle - nicht Ausdruck eines moralisch integren Charakters, sondern niederträchtiges Tugendgebaren, mit dem unsere postmodernen Helden ihre eigene, verkümmerte Seele aufpäppeln. Wir sollten uns klarmachen, worin der Unterschied besteht zwischen wichtiger, vielleicht bissig-ironischer Kritik und den perfiden Strategien des tugend-tobenden Cyber-Mobs: #allesdichtmachen als Verhöhnung der Covid-Todesopfer, zynische Geringschätzung der ärztlichen Bemühungen oder rechte Propaganda zu bezeichnen ist absichtliche Diffamierung, keine sachliche Kritik. Natürlich sind solche schweren Geschütze dazu in der Lage, Menschen jenseits der gesetzlich garantierten Redefreiheit mundtot zu machen, und natürlich knickten einige der Schauspieler prompt unter dem öffentlichen Druck ein und zogen ihr Video zurück. Schade, dass sie unseren Artikel zu virtue signalling nicht gelesen haben. WDR-Rundfunkrat Garrelt Duin, ehemals SPD-Landesvorsitzender in Niedersachsen und Minister in NRW, forderte die öffentlich-rechtlichen Anstalten sogar auf, die Zusammenarbeit mit den fraglichen Schauspielern schnellstens zu beenden, und löschte den Tweet erst, nachdem er dafür seinerseits eine Ladung Cyber-Shaming abbekam. In einem solchen Klima der Einschüchterung durch den links-postmodernen Mob ist es nicht verwunderlich, dass es ein Jahr gedauert hat, bis sich aus dem gesellschaftlichen Mainstream eine kritische Stimme meldet, auch wenn wir selbstverständlich nicht in einer Diktatur leben.
Wie lässt mich die ganze Sache zurück? Weiterhin mit einem Gefühl der Beklemmung, aber ich glaube nun besser zu verstehen, woher es stammt. Ich denke, es ist eine Reaktion auf den illiberalen Zeitgeist, den ich seit einigen Jahren in meinem gesellschaftlichen Umfeld wahrnehme und der durch die Corona-Krise noch deutlicher zu Tage tritt. Es bedrückt mich, nicht weil ich glaube, wir seien tatsächlich auf halbem Weg in ein totalitäres Regime - solche Visionen finde ich albern. Aber es bedrückt mich, weil die grundlegenden Tendenzen - Konformismus, Diffamierung abweichender Meinungen, Ruf nach einer harten Hand - dieselben sind, abstruserweise vor allem in meiner im Paradies aufgewachsenen Generation. Auf der anderen Seite bin ich unsagbar erleichtert darüber, dass die Aktion auch viel Zuspruch aus der gesellschaftlichen Mitte erhielt. Jan Josef Liefers gab in einer Talkshow als Rechtfertigung für #allesdichtmachen zu Protokoll, dass er sich in den Medien zuletzt nicht gut wiedergefunden habe und für Menschen ohne Stimme sprechen wollte, denen es ähnlich gehe. Nach Gesprächen mit Menschen in meinem Umfeld, die ähnlich denken wie ich, glaube ich, dass die Aktion mehr Menschen aus der Seele spricht, als es die Social-Media-Plattformen oder Zeit online vielleicht vermuten lassen. Mir spricht sie aus der Seele. Sie ist in ihrer Form bestimmt unglücklich gewählt, vielleicht die unbedachte Trotzreaktion sehr freiheitsliebender Menschen, aber sie war das erste Zeichen von Heterodoxie in einer beängstigend-orthodoxen Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund haben viele der Kritiker von #allesdichtmachen - wie ich finde - mit Form und Inhalt ihrer Kritik die Aktion erst vollständig legitimiert.
Wie geht es weiter? Heute morgen titelte die Süddeutsche: Coronapolitik in den Niederlanden - Aufmachen mit Inzidenz 300. Der Tenor des Artikels: Alle nicht ganz dicht, die Käsköppe! Die Autoren sprechen von fragwürdigen Experimenten. Ich glaube, mit diesem Mindset des hässlichen Deutschen, der sich permanent in der selbstherrlichen Maßregelung seiner Nachbarn ergeht, kommen wir nicht weiter. Ich denke, wir sollten zugestehen, dass andere Menschen hinsichtlich der Frage, was in der aktuellen Situation die richtigen Balance zwischen Freiheit und Sicherheit, Eigenverantwortlichkeit und Solidarität ist, eine ganz andere Intuition haben können als wir, ohne deswegen verantwortungslos, unsolidarisch oder gleichgültig zu sein. Ich denke, wir sollten sogar der Möglichkeit Raum geben, dass wir tatsächlich nicht richtig liegen; dass unsere Corona-Strategie längere und schärfere Maßnahmen vorsieht als die unserer Nachbarn, weil es unserer typisch deutschen Mentalität entspricht - akkurat, ängstlich, strebsam. Wir sollten die Gelegenheit zum Anlass nehmen, über die eigentlich zentralen Fragen zu diskutieren, die ich bislang in unserem öffentlichen Diskurs kaum sinnvoll erörtert fand: Wie können wir die vom Virus ausgehende Gefahr wieder angemessen kommunizieren? Sind alle bestehenden Maßnahmen in ihrer aktuellen Form wirklich so effektiv, dass wir sie nicht hinterfragen sollten? Wie sehr kann sich jeder Mensch eigenverantwortlich schützen und wie sehr ist er auf die Solidarität der Anderen angewiesen? Solidarität existiert in beide Richtungen, und wir schulden es nach so langer Zeit allen, deren Interessen kaum Gehör finden, nur so viele Einschränkungen zu tolerieren wie wirklich notwendig. Das sollten sich vielleicht auch meine Kollegen von #allemalneschichtmachen vergegenwärtigen. Ich bin mir sicher, es ist ne harte Zeit auf der Intensivstation, aber auch das ist Teil des ärztlichen Berufs, der so viel Geld und gesellschaftliches Ansehen mit sich bringt wie kaum ein anderer. Die Auslastungszahlen der Intensivstationen sind zweifelsohne ein wichtiger Parameter für die Corona-Strategie, aber die ohnehin schon befremdliche Huldigung durch die Öffentlichkeit weiter zu nähren und seine eigenen Belange in den Fokus zu rücken, entspricht nicht meinem Verständnis von optimalem ärztlichen Berufsethos. Wir sollten nicht den Fehler machen, unseren beruflichen Alltag als emotional wirksames Argument in eine Debatte einzuführen, die nicht nur einen Teil der 350.000 Ärzte betrifft, sondern 80 Millionen Menschen. Wenn meine Kollegen tatsächlich derart überlastet sind, wäre ggf. ein Gespräch mit Herrn Spahn oder den jeweiligen Krankenhausleitungen angebracht, die nun über ein Jahr Zeit hatten, für ausreichend Kapazitäten zu sorgen.
Wenn ich einen Twitter-Account hätte (eher lasse ich mich von Nora Tschirner in ihrer Babysprache zuquatschen), würde ich den Hashtag #allewiederdichtmachen ins Leben rufen, der für weniger Moralhypertrophie, Empörung und Sozialsanktionen und für mehr unaufgeregte Rückbesinnung auf den unschätzbaren Wert pluralistischer Meinungsäußerung wirbt - auch oder gerade in Krisenzeiten. Es steht völlig außer Frage, dass viele der Maßnahmen richtig und wichtig waren. Den eigentlichen Konfliktpunkt sehe ich dort, wo es um extrem harte, langandauernde freiheitsbeschränkende Maßnahmen geht, deren Effektivität nicht gut belegt ist. Meine liberale Intuition zu solchen schwierigen Abwägungen lautet: Im Zweifel für die Freiheit!