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Die Radikale Mitte

Das Gift der Postmoderne - Teil 1: Tugendgebaren

Updated: May 19, 2021

Im Anfang war das Wort. Ich lausche dem alten, weißen cis-Mann, der dort vorne hinter dem Altar steht und das Lorem ipsum verkündet: “Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet, wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden… Ihr seid das auserwählte Volk... Liebe Gemeinde...” Niemand kniet so tief wie ich. Ich fühle mich erhaben. Nach dem Gottesdienst kommt die Gemeinde in Gruppen zusammen und lästert. Die Granden der Gemeinde liegen im Clinch, Koalitionen werden geschmiedet. Man lädt ein zu caritativen Veranstaltungen oder zum lebendigen Adventskalender. Es besteht kein Zweifel: Das hier sind die moralischen Lichtgestalten unserer Zeit. Und ich bin einer ihrer Erben.

Nach meinem Abitur fällt mir die Wahl meines Studiengangs nicht schwer. Humanmedizin natürlich. Etwas, wo ich Menschen helfen kann. Etwas, das so richtig Sinn hat! Die ersten Gespräche mit Kommilitonen über Glauben: Ich ernte nicht die Hochachtung, die ich mir gewünscht hätte. Höfliches Nicken, ein leicht irritierter Blick. Ja, jedem das seine, ne! Ich rudere etwas zurück. Naja, ich sei ja auch eher Agnostiker, aber man könne doch auf keinen Fall ausschließen… Am Sonntag gehe ich in meinem Universitätsstädtchen zur Messe. “Die Kirche, wie wir sie kennen vergeht, Brüder und Schwestern”. Am Montag ein langer Artikel zum Missbrauchsskandal der katholischen Kirche. Ich fühle mich nicht mehr erhaben.

Seit ich denken kann eifere ich. Ich möchte der Beste sein, im besten Team. Der, dem die Bewunderung der Anderen sicher ist, der die Deutungshoheit hat. Gleichzeitig höre ich die Stimme des Priesters am Aschermittwoch: Bedenke, Mensch, du bist Staub, und wirst wieder zu Staub. Die Stimme meiner Mutter: Demut, mein Kind, Demut! Im Spiegel glotzt mich ein leicht unterdurchschnittlich hübsches Gesicht an. Eines von 7 Milliarden. Wie kann man demütig sein, und trotzdem etwas ganz Besonderes? Ich denke zurück an einen Jugendgottesdienst, in dem unsere Christ-Rockband “Krieger des Lichts” gespielt hat. Eigentlich hasse ich Silbermond.


Ich fand in meinem Semester rasch, wonach ich suchte. Mein neues Team. Die neuen Regeln kamen mir vertraut vor. Ich fing an, mich in einem Medizinstudenten-Netzwerk zu engagieren, das Menschen ohne Krankenversicherung eine medizinische Behandlung vermittelt. Natürlich behandeln Notaufnahmen jeden Menschen unabhängig davon, ob er oder sie versichert ist oder nicht, aber das war für uns nicht so wichtig. Jeden Sonntag trafen wir uns zur Teambesprechung. Jeder, der länger dabei war hatte das Notfallhandy an einem der Wochentage bei sich. Einmal klingelte es tatsächlich in meinem Dienst. Ich saß gerade in einem Seminar. Die Wichtigkeit in meiner Miene muss zum Schießen gewesen sein, als ich den Dozenten bat, ein dringendes Telefonat vor der Tür entgegennehmen zu dürfen, es handle sich um eine Angelegenheit mit Schweigepflicht. Draußen vor der Tür quakte mir eine Frauenstimme ins Ohr: Hi, hier ist die Mandy von O2, ich rufe an wegen ihres Vertrages. Hätten Sie Interesse an einem Upgrade? So ging das nicht weiter… Ich reduzierte mein Engagement in unserem Mediziner-Netzwerk. Wir waren ohnehin heillos überbesetzt. Zumindest für meine Bewerbungen bei Studienstiftungen, wo soziales Engagement ganz groß geschrieben wird, war das Mediziner-Netzwerk im Lebenslauf hilfreich. Ich fing an, für Klimaschutz zu demonstrieren und ließ mein Auto etwas öfter stehen. Dann engagierte ich mich für die medizinische Versorgung auf Madagaskar und die Rechte Homosexueller, das volle Spektrum an LGBTQ+ stand mir damals leider noch nicht zur Verfügung. Endlich kamen die Studentenproteste gegen Studiengebühren. Voll und ganz habe ich mich nie mit der Thematik auseinandergesetzt, aber es war cool, das Rektorat zu besetzen und vor der Uni zu campen. Eine hübsche Romanistin hab ich auch kennengelernt. Sinnhaftigkeit, Liebe, Liebe, Sinnhaftigkeit. 

Als Wahlfach belegte ich Medizinethik. Natürlich. Dieser Wahl verdanke ich ein einschneidendes Erlebnis. In der dritten Stunde des Seminars sagt die Dozentin, es gehe heute um einen realen Fall: Die Tochter eines sympathischen Elternpaares hat bei Geburt einen schweren Herzfehler. Die Ärzte drängen. Wenn das Neugeborene nicht sofort per Helikopter in ein herzchirurgisches Zentrum geflogen und dort operiert werde, sei kaum Hoffnung auf Überleben. Der Eingriff sei riskant, der Tod auf dem OP-Tisch nicht auszuschließen. Die Eltern lehnen ab. Sie wollen, dass ihre Tochter in ihren Armen friedlich einschläft, statt einsam auf einem OP-Tisch. Die Dozentin legt das Blatt, von dem sie abgelesen hat beiseite und blickt in die Runde. Wie bewerten wir den Fall, aus ethischer Sicht? Ich melde mich sofort. Doch ein Kommilitone wird zuerst aufgerufen. Ich ärgere mich. Nun darf er erklären, weshalb diese Eltern Kriminelle sind. Er wirft sich den schräg geschnittenen, halb über die Augen fallenden Pony, wie die Checker ihn damals trugen - dabei ist er eher der Typ Schluffi - aus der Sicht und beginnt in esoterischem Ton die Eltern zu lobpreisen für ihre mutige und menschliche Entscheidung. Ich bin empört. Ich falle ihm ins Wort. Er wolle doch nicht tatsächlich das Verhalten zweier Unmenschen rechtfertigen, die aus sentimentalen Gründen ihrem Kind die Chance auf sein Leben genommen hätten? Er feuert zurück: Menschen wie ich seien das Problem! Menschen ohne Empathie, die in ihren Patienten nichts als Maschinen sähen und ihnen im Moment der Verzweiflung die kalte Apparatemedizin aufdrängten. Er habe vor dem Studium in einem Hospiz gearbeitet, er wisse, wie es sei, den letzten Weg mit einem Menschen zu gehen, wie viel Mut dazu gehöre. Weitere Schlagabtausche folgen. Der Rest des Kurses hat nur noch wenig Zeit, seine Meinung in die Runde zu murmeln. Die Ersten stimmen mir zu, ohne so richtig mitzufiebern. Nachdem die Ersten zugestimmt haben, nicken die restlichen eigentlich nur noch ab, einige versuchen einen zaghaften Ausgleich zwischen meiner und seiner Position, und ernten von uns beiden in gleichem Maße zornige Blicke. Aber eigentlich ist es schon gar nicht mehr wichtig. Wir beide warten gespannt auf das höchstrichterliche Urteil, ich blicke siegessicher auf die Dozentin mit grauem Haar. Zu meiner Enttäuschung bezieht sie keine Stellung, sondern analysiert auf platte Art die Ambivalenz des Sachverhaltes. Zuletzt versucht sie zu beschwichtigen. Was sie uns nicht erzählt habe, um den Fall prägnanter zu gestalten: Das Kind habe nicht nur einen Herzfehler gehabt. Der Herzfehler sei Teil eines Syndroms gewesen, Trisomie 18, auch Edwards-Syndrom genannt, ohnehin erreichten nur 15% der Kinder mit diesem Syndrom das 5. Lebensjahr. Irgendwie bin ich erleichtert, und in meiner geistigen Entspannung entgleitet mir etwas Unbedachtes: Ach so, naja, dann ist es natürlich etwas Anderes… Jetzt ist der Orgel-Pony an der Reihe, empört zu sein. Ich wolle also allen Ernstes behaupten, behindertes Leben sei nicht lebenswert? Seine Schwester habe einen Sohn mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Er sei nicht bereit, auch nur eine Sekunde länger im selben Raum mit einem Faschisten zu sitzen, der das Leben seines Neffen für minderwertig erkläre. Er stürmt aus dem Raum und knallt die Türe. Jetzt also mein Tribunal. Meine Einlassung sei inakzeptabel, ringsum äußert man Verständnis für die Kränkung des Onkels. Ich versuche mich ungelenk zu rechtfertigen. Dass es so doch überhaupt nicht gemeint gewesen sei, ich meinte doch nur… Es sei eben nicht ganz das Gleiche, und wenn das Kind sowieso in wenigen Jahren sterbe, sei das verursachte Leid doch möglicherweise… Ich schaffte es, die Wogen etwas zu glätten, aber die Medaille für den Krieger des Lichts erhalte ich in diesem Kurs nicht mehr. Auf dem Weg nach Hause fühle ich mich räudig. Im Spiegel wieder diese Visage. Heimlich weiß ich schon immer, dass ich nicht so dufte bin, wie ich tue.  

Ich sehe diesen Abend als den Ausgangspunkt einer langen, schmerzlichen Erwachensperiode, einer Art awakening von meiner wokeness. Wenn ich heute zurückblicke, schäme ich mich maßlos. All die wohlfeile Solidarisierung, all das Endorphin in meinen Adern, wenn ich jemand anderen über die neuesten, politisch korrekten Termini aufklärte, das Fachsimpeln mit meiner Mutter über gewaltfreie Kommunikation, während wir in den entscheidenden Momenten nichts als gemein zueinander waren, mein vor mir her getragenes Gutmenschentum. Ich denke gerne an die Kirchengemeinde zurück, aus der ich irgendwann mit großer Erleichterung ausgetreten bin. Zumindest dort war ich nicht der Schlimmste gewesen. Andere schlugen sich sonntags noch heftiger auf die Brust als ich, um dann im wahren Leben ihre christlichen Ideale mit so viel Niedertracht zu leben wie nur möglich. 


Von all dem Gift, das uns die Postmoderne schmackhaft machen will, ist nichts toxischer als diese Perversion von Idealismus, das Tugendgebaren, aus dem Englischen auch virtue signalling genannt. Das aggressive zur Schau Stellen der eigenen Heiligkeit anhand großer Worte oder Gesten, die doch nichts als eine wohlfeile Übersteigerung dessen sind, was das Publikum dieses peinlichen Spektakels mit hoher Sicherheit für richtig erachtet und dessen Beifall daher sicher sein kann. Besonders effektiv wird es, wenn es begleitet wird von der Maßregelung, Beschämung (shaming) oder Abwertung naheliegender Personen. AFD-Wähler sind heute eine beliebte Zielgruppe (klar, finden wir alle doof). Natürlich ist dieses Phänomen nichts Neues, keine Erfindung der Postmoderne. Es ist Teil unserer grundlegenden Programmierung, mit der wir seit jeher unser Selbstwertgefühl aufputschen und uns in unserer sozialen Gruppe positionieren. Was die Postmoderne jedoch leistete, war die unheilige Synthese dieses problematischen menschlichen Motivs mit den wichtigsten Idealen unserer Zeit - Gleichberechtigung, Toleranz verschiedener sexueller Orientierungen, Respekt für andere Kulturen und Ethnien. 

Warum ist diese Ehe so problematisch? Ideale sind nur Ideale, wenn wir sie aufrichtig und realitätsbezogen vertreten. Ein menschliches Ideal ist selten an einem Extrempol lokalisiert, und ein Ideal darf nie auf Lügen fußen. Idealismus bedarf der Güte. Jenseits dessen verkommt Idealismus zu Ideologie, zu Selbstzweck, zu Tyrannei. Tugendgebaren hat nicht primär das Ziel, die Welt besser zu machen, sondern sich selbst über andere zu erheben. Damit sind die Rädelsführer gezwungen, immer noch eine Schippe draufzulegen, wann immer die eigene Glaubensgemeinschaft nachgerückt ist. Was bringt es einem heute noch, das Ideal von Gleichberechtigung der Geschlechter zu vertreten, wenn 98% der Gemeinschaft dasselbe denken? Es braucht die nächste oder übernächste Stufe, um noch etwas zu gelten! Frauen und Männer in exakter 50/50-Repräsentation in allen Belangen des Lebens, dann können wir zufrieden sein! Sollte man Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund mit Respekt behandeln? Na klar, wer ist von so etwas noch beeindruckt? Aber zu erklären, dass schon eine interessierte Frage nach der Herkunft des Anderen ein rassistischer Übergriff sei, das konnte bisher selbst im Prenzl-Berg noch Eindruck schinden - doch wie alles im Leben wird auch dieser Nonsense irgendwann seine Wirkung verlieren und muss weiterentwickelt werden für den nächsten Kick. 

Es ist nur ein kleiner Teil der Herde, der sich auf diese Weise selbst beweihräuchert. Die echten Tugendgebärenden in unserer Gesellschaft sind selten. Aber in einer ehrfürchtigen Gemeinde reichen auch wenige Hohenpriester aus, um das Hamsterrad des Tugendfurors am Laufen zu halten. Das Prinzip ist stets das Gleiche: Die neuen, strengeren Regeln werden von den Hohenpriestern verkündet, und die große Herde der Schafe guckt verdutzt. Richtig einleuchten will ihnen das nicht, warum auf einmal auch drei Geschlechter nicht mehr ausreichen sollen. Doch die Hohenpriester blicken böse und gehen beglückt und mit erhobenem Zeigefinger weiter ihren Weg, genau diese Phase ist ja am erhebendsten. Und irgendwann beginnt das erste Schaf mitzumachen, vielleicht aus Furcht, vielleicht aus eigenem Wunsch nach Erhabenheit. Dann ein weiteres. Irgendwann listet Facebook mehr Geschlechter-Auswahlmöglichkeiten als auf die Handyscreens der Kids passen. Dank sei dem Herrn, der das Scrollen erfunden hat. Die restlichen Schafe haben nur die Möglichkeit, mitzublöken oder in die AFD einzutreten. Da fällt die Wahl nicht schwer. Dann beginnt der ganze Zyklus von neuem, stets auf die nächste Stufe enteilend, immer weiter, denn die Hohenpriester werden traurig, wenn sie auf einmal zum Mainstream gehören, und das macht sie umtriebig. Ob das, was da gepredigt wird, noch etwas mit Wahrheit oder Gerechtigkeit zu tun hat, ist völlig egal, und es muss sich fast der Natur der Sache nach irgendwann davon entkoppeln, wenn die echten Ideale mehr und mehr zu langweiligen Gemeinplätzen geworden sind. Was ist die zynischste Parallele zwischen postmoderner Linksideologie und Katholizismus? Die gutmütigen Schafe, die doch nichts anderes wollen als gute Menschen sein und niemandem etwas zuleide tun, können sich zur eigenen Augenwischerei auf den erbärmlich utopischen Teil des Evangeliums konzentrieren: “Durch uns wird die Welt gerecht und alle Menschen gleich, und wenn dich einer auf die eine Wange schlägt...”. Derweil berauschen sich ihre Schäfer an der wahren Essenz dieser totalitären Glaubenssätze, und die Schafe merken nicht, dass ihre Schäfer auch ihr Schächter sein wollen. Wenn wir als gesellschaftliche Mitte nicht irgendwann erkennen, dass ein kleiner Teil boshafter Menschen uns vor sich hertreibt, machen wir uns irgendwann selbst schuldig, als Handlanger und tatenlos Gebliebene. Das, was da so hyper-moralisch daherkommt, das Tugendgebaren in großem Stile, ist nichts als Nazissmus - Verzeihung - Narzissmus! Was dieses beliebte Instrument linker Ideologen so maßlos perfide macht, ist seine Tarnung als ethisch höherstehend, als altruistisch, als progressiv. Gerade das macht es den Schafen so schwer, Tugendgebaren von echtem Idealismus zu unterscheiden, und gerade das macht die postmoderne Linke gefährlicher als plumpe rechte Ideologie. Die Rechte trägt ihre Schlechtigkeit offen vor sich her, kein Schaf mit einem halben Hirn wird jemals in Versuchung kommen, diese Ideologie für den Weg der Gerechtigkeit zu halten. Links-postmoderne Ideologie hat es geschafft, ihre Niedertracht hinter Idealen zu verstecken, die jedem Menschen am Herzen liegen sollten. 


Schwestern und Brüder der Mitte, was ihr da seht ist kein aufrichtiger Gerechtigkeitssinn, was ihr da seht ist Hoffart. Warum bin ich mir so sicher? Weil ich selbst einer von ihnen bin. Ich habe viele Jahre auf diese Weise mein Minderwertigkeitsgefühl therapiert. Ich habe mich berauscht an der Macht, die ich über andere hatte, wenn ich sie maßregeln konnte. Ich brauchte die Ehrfurcht meiner Mitmenschen wie die Luft zum Atmen. Amen, das sage ich euch: Diese Menschen haben nur Macht über euch, wenn ihr sie ihnen gebt. Diese Menschen gehen ein, wenn ihr ihnen die Hochachtung für ihr Tugendgebaren vorenthaltet. Ihr müsst nicht gegen sie kämpfen, müsst nicht demonstrieren, ihr sollt sie nicht hassen (sie sind selber arme Schweine), ihr müsst nur eine einfache Sache tun: Sagt nein! Wenn sie euch beschämen wollen für etwas, das nicht schämenswert ist: Sagt nein! Wenn sie euch Dinge vorbeten, die offensichtlich falsch sind: Sagt nein! Wenn sie eure Ideale nehmen und zu ihrem Selbstzweck entfremden: Sagt nein! Wenn sie keifen und schreien, sie seien die Guten und ihr die Bösen: Haltet ihnen den Spiegel vor! Fürchtet euch nicht vor ihnen! Lacht ihnen ins Gesicht, und sie werden verschwinden. 


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